Interview mit Dr. Gérard Schockmel, Konsiliararzt für Infektionskrankheiten (HRS)

 

Herr Dr. Schockmel, wie sieht die derzeitige Lage in China in Bezug auf Corona aus?

In der Hoffnung, das Wirtschaftswachstum wieder ankurbeln zu können, beendete China im Dezember letzten Jahres seine „Null-Covid-Politik“, mit der es beinahe drei Jahre lang ein strenges Gesundheitskonzept verfolgt hatte. In diesem Sinne wurden auch Chinas Grenzen wieder geöffnet, sowohl für die eigene Bevölkerung als auch für Ausländer die einreisen wollen. Doch im Gesundheitswesen löste der Ausstieg aus der Null-Covid-Politik eine große Welle an Klinikeinweisungen und Todesfällen aus, deren Ende noch nicht in Sicht ist. Die epidemiologische Situation in China weckt im Rest der Welt die Furcht vor dem Aufkommen neuer Virusvarianten, die sich negativ auf die Bevölkerungsgruppen außerhalb Chinas auswirken könnten.

Die große Welle an Klinikeinweisungen in China hängt mit der Herdenimmunität in diesem Land zusammen. Die Null-Covid-Politik schaltete die Ausbreitung des Coronavirus weitgehend aus. Infolgedessen besitzt die chinesische Bevölkerung sehr wenig natürliche Immunität gegen das Coronavirus, da diese nur durch eine Infektion erworben werden kann. Was die durch Impfung erworbene Immunität betrifft, setzte China bevorzugt seine eigenen Impfstoffe ein, die deutlich weniger wirksam sind als die RNA-Impfstoffe. Deshalb ist die Immunität, die durch die chinesischen Impfstoffe verliehen wird, geringer als jene, die man durch die RNA-Impfstoffe erzielt. Hinzu kommt der Umstand, dass zahlreiche Chinesen den in ihrem Land hergestellten Impfstoffen misstrauten und sich deshalb gar nicht impfen ließen. Das Fehlen der natürlichen Immunität, die relativ geringe Impfrate und die suboptimale Wirksamkeit der eingesetzten Impfstoffe führen dazu, dass die Herdenimmunität in China deutlich niedriger ist als jene die in den westlichen Ländern beobachtet wird. Dies erklärt die große Welle an Klinikeinweisungen und die derzeitige Überlastung des chinesischen Gesundheitssystems.

 

Besteht das Risiko, dass in China ein virulenter Coronavirus-Stamm entsteht?

Die Coronavirus-Stämme, die derzeit in China zirkulieren, gehören der Omikron-Variante an. Die Omikron-Variante ist im November 2021 erstmals aufgetreten und weist eine geringere Virulenz auf als die früheren Varianten, ist aber viel ansteckender. In unseren Ländern zirkulieren die Omikron-Varianten seit einem Jahr und zahlreiche Menschen haben sich mindestens einmal damit infiziert. Die Herdenimmunität in unseren Ländern ist sehr hoch und die meisten Menschen besitzen eine hybride Immunität (durch Infektion und Impfung). Eine hybride Immunität stellt den bestmöglichen Schutz gegen Corona dar. Diese Form von Immunität schützt den Einzelnen nicht unbedingt vor einer Infektion, aber vor einer Corona-Erkrankung mit schwerem Verlauf und vor dem Risiko coronabedingter Komplikationen. Bei einer immunisierten Person ohne größere Risikofaktoren verläuft eine Infektion mit dem Coronavirus meist wie eine „harmloser“ Atemwegsinfekt, abgesehen von einem gewissen Risiko, ein Long-Covid-Syndrom zu entwickeln, das anscheinend bei jeder Neuinfektion erneut besteht. Folglich sind wir in Bezug auf die Immunität gegen die Omikron-Variante China um Längen voraus.

 

Wie steht es mit der Variante XBB.1.5? Stellt sie für unsere Bevölkerungen ein Risiko dar?

Der Virusstamm XBB.1.5 ist eine Untervariante von Omikron. Diese Untervariante ist in den USA bereits weit verbreitet und breitet sich derzeit in Europa aus. Zahlreiche Experten vertreten die Ansicht, dass es sich dabei um den Coronavirus-Stamm mit der höchsten Übertragbarkeit handelt, der seit Beginn der Pandemie beobachtet wurde. Nichtsdestoweniger scheint die Untervariante XBB.1.5, trotz ihrer hohen Übertragbarkeit, nicht virulenter zu sein als die vorausgegangenen Omikron-Stämme. Dies ist eher beruhigend.